19:00
25. Apr
( Diskussion / Vortrag )
Herrschaft bis in alle Ewigkeit?
  • Eintritt frei
Zur gesellschaftlichen Konstitution des Autoritarismus
Um gegenwärtige politische und gesellschaftliche Prozesse zu erklären, wird oftmals die Kategorie des “Autoritarismus” bemüht. Allzu häufig werden einzelne Personen, ganze Verhältnisse oder bestimmte politische Lager als autoritär bezeichnet. Selten wird indessen geklärt, was es mit diesem Vorwurf auf sich hat, welchen gesellschaftlichen Bedingungen er unterliegt und inwiefern er für die Beschreibung der jeweiligen Gegenstände adäquat ist. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist allerdings notwendig, um eine adäquate Kritik der Gesellschaft und ihrer spätmodernen Verkehrsformen zu leisten und sich dadurch der Kategorie “Autoritarismus” zu nähern. Welche Erfahrungen führen nun also zu deren gegenwärtiger Relevanz?

Die deutsche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wähnt sich in einem Zustand, in dem sie bereits einige unruhige Gewässer der Geschichte erfolgreich hinter sich gelassen hat. Sie ist stolze Erinnerungsweltmeisterin und hat so verdrängt, dass der Nationalsozialismus in ihr aufgehoben ist. Sie hat den Kommunismus besiegt und spätestens mit der deutschen Einheit bewiesen, dass man es hierzulande nicht mit Gesellschaft, sondern mit einem Volk zu tun hat. Der deutsche Fleiß hat Deutschland wieder aufgebaut und zum Titel als Exportweltmeister verholfen. So ist man sich über Parteigrenzen hinweg einig, dass mit Müßiggang in diesem Land nur auf eine Weise umgegangen werden kann: Wer nicht arbeitet, hat das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe verwirkt.

In ebendieser Gesellschaft, die seit jeher Armut nur verwaltet, sie aber weder kritisiert noch verhindert, und Flüchtlingskrisen meistert, ohne Geflüchteten eine Perspektive zu gewähren, wird nun allenthalben vom “Rechtsruck” gesprochen. Gemeint ist damit der rasante Aufstieg der AfD von einer bizarren, oft verspotteten Kleinstpartei zur mindestens ostdeutschen Volkspartei. Hier werden menschenverachtende Positionen so deutlich, dass gar der Verfassungsschutz Teile der Partei als gesichert rechtsextrem einstuft. Im hiesigen Bundesland machen auch PEGIDA und Freie Sachsen von sich reden. Was jene, die dieses rechte Ungetüm, welches unkontrollierbar wie ein Tsunami auf das friedfertige Völkchen zuzustürmen scheint, bekämpfen wollen, nicht erkennen, ist, dass das Problem schwerer wiegt. Denn es resultiert nicht aus individueller Gemeinheit oder stößt von außen auf diese Gesellschaft, sondern entwickelt sich grade aus ihr heraus. Das äußert sich auch im Antisemitismus, der sich – aller ritualisierten Erinnerung zum Trotz – in Form von Schuldabwehr und reaktionärem Antikolonialismus spätestens seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres wieder ungehemmt in aller Öffentlichkeit zeigen kann.
Die Gesellschaft, welcher diese Form der Politik adäquat ist, zeichnet sich durch radikale Vereinzelung aus. So liegt die Verantwortung, das eigene Leben zu gestalten und sich in der Konkurrenz um den begehrten Arbeitsplatz durchzusetzen, bei den Einzelnen. Wer den Kampf endgültig verliert und die eigene Armut nicht mehr verhindern kann, gilt deshalb auch als selbst schuld an der Misere. Im verallgemeinerten Konkurrenzverhältnis, welches die Lebenswelt bestimmt, ist man dazu verdammt, sich ohnmächtig zu fügen, um am Ende doch noch für Klimakrise, Pandemie und alle anderen Krisen der Gesellschaft die Verantwortung als Privatperson zugeschoben zu bekommen. Weil dieser Zusammenhang atomisierter Einzelner als Naturverhältnis erscheint, ist Veränderung unmöglich, und so wirkt dieses ewige Herrschaftsverhältnis als das, was es nie war: die beste aller Welten. Vom Begriff der Freiheit, einst ein zentraler Begriff der Aufklärung, scheint heute kaum mehr als Willkür übrig zu sein: Verteidigt werden soll die Freiheit des Sozialatoms, sich in der Konkurrenz mit allen Mitteln durchzusetzen. So werden die Rechte marginalisierter Gruppen oder Pandemieschutzmaßnahmen schnell als Einschnitt in die “Freiheit des Einzelnen” wahrgenommen. Dieser sehnt sich paradoxerweise wieder nach Gemeinschaft: wahlweise etwa nach der des homogenen Milieus, der Clique oder Szene, des Dorfes oder doch ganz explizit jener des Volkes.

Dem Zwang des zur zweiten Natur geronnenen bewusstlosen Prozessierens haben sich die scheiternden Individuen zu fügen. Wo die Gesellschaft als Natur über die ihre Funktionen exekutierenden Individuen herrscht, kann Vernunft sich nur im Verfall realisieren: als Instrument zur Durchsetzung des Partikularinteresses. Die abstrakte Herrschaft der Verhältnisse ist versteinert. Der Versuch, sich aus ebendiesen Verhältnissen zu befreien, endet daher mehr und mehr in einer autoritären Krisenbewältigung, die sich zwar als “gegen das System” gerichtet versteht, doch durch die unbegriffenen Verhältnisse zu einer konformistischen Revolte verkommt. Die einzige Option bleibt der Status quo und damit die Verewigung – und wie es scheint: Verstärkung – der Herrschaft selbst. 

So soll in der Ringvorlesung genau dieses destruktive Verhalten von Einzelnen und Kollektiven Thema sein. Dafür werden auch heute noch die Theorien und Studien zum autoritären Charakter des Institutes für Sozialforschung und ihres Umfeldes zu Rate gezogen. Allerdings stellen die Verhältnisse die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Konstitution des Autoritarismus gegenwärtig vor einige Schwierigkeiten. Das nahtlose Anschließen an die Studien zu Autorität und Familie und die Studies in Prejudice ist fragwürdig, entstanden sie doch unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die sich zur Entstehungszeit im Verfall befindliche bürgerliche Gesellschaft garantierte einen wesentlich verschiedenen Modus der Vergesellschaftung als jenen, welchen wir heute vorfinden. Dies erscheint auch in mitunter veränderten Formen des Autoritarismus. Dementsprechend wurden auch die theoretischen Grundlagen weiterentwickelt. Ziel der Ringvorlesung ist es, die historische Veränderung zu begreifen und so zur Aufklärung der gegenwärtigen Widersprüche und Hoffnungslosigkeiten beizutragen. Dafür sollen zunächst drei Vorträge in die gegenwärtige Gesellschaftsform einführen. Daran schließen Vorträge zur Begriffsgeschichte des Autoritarismus an, um abschließend differente, aber interdependente Erscheinungen und Aspekte der Gesellschaft im autoritären Verfall zu thematisieren.

2. Alexandra Schauer: Unter Stachelschweinen. Gesellschaftliche Zurichtung und destruktive Krisenverarbeitung

»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt«, schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer gemeinsam verfassten, erstmals 1944 erschienenen Dialektik der Aufklärung. Sie weisen damit auf die Gleichzeitigkeit von Vergesellschaftung und Zurichtung hin, die für die Zivilisationsgeschichte im Allgemeinen wie für die Geschichte der bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Besonderen charakteristisch ist. Weil die Menschen in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft »bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und deswegen giftige Weise zu lieben« (Adorno), führen gesellschaftliche Krisenerfahrungen häufig nicht zu einer Solidarisierung mit Schwächeren, sondern sie bringen destruktive Verarbeitungsweisen hervor, die sich autoaggressiv gegen das Selbst oder aggressiv gegen Andere richten können. Der Vortrag geht dieser Dialektik der Integration auf den Grund. An den historisch spezifischen Reproduktionsbedingungen des Kapitalverhältnisses in der bürgerlich-liberalen, der fordistischen sowie der postfordistischen Epoche ansetzend, zeichnet er die dominanten Formen gesellschaftlicher Zurichtung nach. Fluchtpunkt der Analyse bildet der gegenwärtige Integrationsmodus einer Dialektik von Allzuständigkeit und Ohnmacht sowie die mit ihm verbundenen Tendenzen selbstzerstörerischer Individualisierung und ressentimentgeladener Personalisierung.

Dr. Alexandra Schauer ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt und forscht an der Schnittstelle von Soziologie, Sozialphilosophie und Psychoanalyse. Ihr mehrfach ausgezeichnetes Buch Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung (Suhrkamp 2023) geht in drei materialreichen Studien dem spätmodernen Bedeutungsverlust politischer Gestaltungsphantasien auf den Grund.

Leseempfehlung:
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, »Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung«, in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 [1944].
Erich Fromm, »Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil«, in: Max Horkheimer (Hg.), Studien über Autorität und Familie, Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, zu Klampen 1987 [1936].
Alexandra Schauer, »Zwischen Allzuständigkeit und Ohnmacht. Zur psychosozialen Dynamik spätmoderner Subjekte«, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. 2024/1.
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